Allmählich liegen die Nerven blank

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Bildrechte Nadja Fiedler

Christophorus-Gesellschaft reagiert auf Zuspitzung der sozialen Problemlagen

Endlich war die Jobsuche von Erfolg gekrönt. Tom B. (Name geändert) atmete auf. Dumm nur, dass er einen ziemlichen Schuldenberg abschmelzen muss. Das schmälert den Lohn. Und sorgt bei Tom B. für Frust. „Jeden Monat werden ihm 200 Euro abgezogen“, sagt Michael Thiergärtner von der Christophorus-Gesellschaft, der Tom B. sozialarbeiterisch begleitet. Ohne diese Begleitung hätte Tom B. längst schon wieder alles hingeschmissen. Michael Thiergärtner motiviert ihn kontinuierlich, durchzuhalten.

Tom B. war nie auf Rosen gebettet, er boxte sich durch das Leben, so gut es eben ging. Gerade Menschen wie ihm machen die aktuellen Krisenzeiten zu schaffen, sagt Michael Thiergärtner. Chronische Geldnot lässt bei vielen seiner Klienten allmählich die Nerven blank liegen. Michael Thiergärtner merkt das in der von ihm geleiteten Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose und im Betreuten Wohnen. Und er merkt das in der Kurzzeitübernachtung (KZÜ), für die er ebenfalls zuständig ist. Mit der wachsenden materiellen Not wächst latente Aggressivität: „Deshalb haben wir seit Januar zwei Mitarbeiter am Abend vor Ort.“ Bisher gab es nur einen.
In die KZÜ kommen Männer, die frisch aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wurden. Andere verloren soeben ihre Wohnung. Nicht wenige Klienten stammen ursprünglich nicht aus Deutschland. Was die Kommunikation erschwert. Immer mehr haben eine manifeste seelische Erkrankung. Nicht selten ist den Männern schließlich anzusehen, dass sie mit einer Sucht zu kämpfen haben. „Alles in allem haben wir viel intensivere Beratungsfälle als früher“, sagt Michael Thiergärtner. Bis zu 30 Strafentlassene, Wohnungslose oder Männer in äußerst prekären Lebensverhältnissen berät er mit seinem Team derzeit pro Tag. Das ist deutlich mehr als vor der Corona-Krise.
Menschen in Not zu einem Dach über dem Kopf, zu Nahrung, Kleidung und zu Sicherheit zu verhelfen, heißt, die Menschenrechte zu realisieren. Steht doch all dies jedem Menschen qua Menschsein zu. Weil die Not wächst, ist es in der Praxis jedoch nicht einfach, Menschen das zu geben, was sie menschenwürdig leben lässt. Michael Thiergärtner kann Wohnungslosen zwar theoretisch anbieten, ins Betreute Wohnen der Christophorus-Gesellschaft zu ziehen. Allerdings sind inzwischen so viele Männer aus Würzburg auf dieses Angebot angewiesen, dass die Nachfrage bei weitem nicht gestillt werden kann: „Wir haben eine Warteliste von bis zu einem halben Jahr.“
Tom B. weiß nur zu gut, wie das ist, wenn man nachts nicht schlafen kann, weil ständig die Frage im Kopf herumschwirrt: „Wie geht es weiter?“ Immerhin hatte er das Glück, ins Betreute Wohnen aufgenommen zu werden. Nicolas S. (Name geändert) hingegen, der vor kurzem seine Wohnung verlor, hat noch immer keine neue Bleibe. Nie wird er die erste Nacht nach der Zwangsräumung vergessen. Er wusste nicht, wohin. Erst spät erfuhr von der Möglichkeit, sich an die KZÜ zu wenden. Kurz vor Mitternacht klingelte er. Als man ihn nicht sofort einließ, wurde er aus lauter Verzweiflung und Müdigkeit ausfällig. Er wollte nur noch schlafen. Er hatte keine Kraft mehr. Er war fertig.
Auch früher hatte es Michael Thiergärtner mit Männern zu tun, die frisch aus der Strafhaft entlassen waren. Oder die am späten Abend von ihren Eltern aus der Wohnung geworfen wurden. „Doch wir hatten insgesamt sehr viel mehr Herumreisende“, berichtet er.
Diese Männer waren jahrelang quer durch Deutschland zu Fuß, mit dem Drahtesel oder per Zug unterwegs. Für die Sozialarbeiter der Christophorus-Gesellschaft waren sie alte Bekannte. Sie kamen regelmäßig. Übernachteten eine Woche. Danach verabschiedeten sie sich. Um ein paar Monate später wieder aufzutauchen. Diese Männer benötigten keine intensive Beratung. Sie hatten sich mit ihrem Leben arrangiert. Sie wussten, wie sie sich durchschlagen konnten. „Heute haben wir fast jede Nacht eine komplett neue Zusammensetzung in der KZÜ“, sagt Michael Thiergärtner. Er und seine Kollegen müssen sich darum permanent auf neue Problemlagen einstellen.
Von Sozialarbeitern zu erwarten, dass sie die Menschen aus ihrer Not befreien, würde unter den aktuellen Bedingungen heißen, von ihnen die Quadratur des Kreises zu verlangen. Zu viele Umstände stehen diesem Ziel entgegen. Da ist die Inflation. Die Mieten steigen weiter. Und überall sind Menschen in krisenhaften Situationen damit konfrontiert, dass die Wartezeiten immer länger werden. Das betrifft Fachärzte. Kliniken. Therapeuten. Sogar die Lage in der Obdachlosenunterkunft der Würzburger Sedanstraße ist angespannt. All dies stellt Betroffene, es stellt aber auch Sozialarbeiter vor immense Herausforderungen.

Michael Thiergärtner von der Christophorus-Gesellschaft berät wohnungslose Männer, außerdem unterstützt er sich durch ganz konkrete Hilfe, zum Beispiel durch frische Kleidung. Bild: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft